Voll bepackt. Gerard Roscoe ist seit drei Jahren Foodsaver. Mittlerweile agiert er als foodsharing-Botschafter für Berlin.
Kistenweise Tomaten, Avocados, Brot, Rosmarin und Petersilie. Das und mehr packt Gerard Roscoe in seine Satteltaschen. Der ausgebildete Sänger ist ehrenamtlich auf Rettungsmission. Zwei bis dreimal die Woche ist er im Einsatz, um Lebensmittel vor dem Müll zu bewahren. Heute sind wir im Hinterhof einer namhaften Bioladenkette. Sie stellt Produkte, die nicht mehr verkäuflich aber noch genießbar sind, zur Abholung.
Organisiert ist das Ganze über die Plattform foodsharing.de. Viele haben mittlerweile schon davon gehört. Die Initiative wurde vor fünf Jahren von Raphael Fellmer ins Leben gerufen, um der Lebensmittelverschwendung in Deutschland einen Riegel vor zu schieben. Den foodsharing Verein gründete Valentin Thurn – Regisseur von „Taste the Waste“. Über die Zeit sind die zwei Initiativen zusammengewachsen. Das Konzept: Lebensmittel, die für den Verkauf nicht geeignet sind, verwerten statt wegwerfen. Das reicht von Senf mit überschrittenem Mindesthaltbarkeitsdatum bis zur Banane mit braunen Flecken.
Kalkuliertes Wegwerfen: Viele Bäckerreien rechnen damit ihre Waren weg zu schmeißen. Wirtschaftlich ok, ethisch fragwürdig.
Allein in Berlin sind rund 5.000 Foodsaver mehrmals die Woche ehrenamtlich unterwegs. Sie kümmern sich um Abholungen, Kooperationen mit Händlern bis zur Vernetzung privater Haushalte. Dabei kommt einiges an Lebensmitteln zusammen. Viel mehr, als ein Foodsaver allein verbrauchen kann.
Gerard beim Sortieren der Lebensmittel.
Fair-Teiler – ein sozialer Mikrokosmos
Damit die gerettete Ware nicht doch im Müll landet, wurden von der Initiative sogenannte Fair-Teiler ins Leben gerufen. Auch Gerard bringt seine Ausbeute zu einem in der Dunckerstraße im Prenzlauerberg. Im ehemals besetzten Haus, im zweiten Hinterhof neben einer Kleiderkammer stehen zwei Kühlschränke – zugänglich für alle. Darin werden gerettete Lebensmittel gelagert. Jeder der will kann sich daran bedienen.
Dabei gelten, wie bei den Rettungstouren, hohe Hygienestandards. „Zur Standardausrüstung eines Foodsavers gehören Einmal-Handschuhe, Kühltasche samt –akkus und genügend Tüten und Beutel, um die Lebensmittel separat und hygienisch zu behandeln und zu transportieren“, erzählt Gerard „und unsere Fair-Teiler werden täglich mit Essigwasser gereinigt.“
Einer der Fair-Teiler in Berlin-Prenzlauerberg. Das zerschnittene Siegel erinnert an die Schließung durch das Lebensmittelamt.
Die Fair-Teiler wurden von der Community schnell angenommen und sind etabliert. „Sie sind eine super Möglichkeit das Essen zu verteilen“, erläutert Gerard. „Menschen aus allen Schichten Berlins kommen hierher. Dass einige der Schränke rund um die Uhr zugänglich sind, ist ein großer Vorteil.”
Um die Fair-Teiler hat sich ein sozialer Mikrokosmos gebildet. Das kommt nicht nur, aber verstärkt auch sozial Schwachen zu Gute. Menschen knapp oberhalb der Armutsgrenze haben keinen Ausweis für die Tafel; oft reicht das Geld nicht. Die Fair-Teiler helfen ihnen Engpässe zu vermeiden. Bedürftige, die sich aus Scham nicht trauen zur Tafel zu gehen; sich sozial als bedürftig zu outen; frequentieren die Fair-Teiler genauso. Das Ganze ohne sich rechtfertigen zu müssen, anonym und frei.
Der Verbleib der Fair-Teiler ist noch ungewiss
Viele der Fair-Teiler in Berlin schloss und versiegelte das Lebensmittelamt vorübergehend. Die Begründung dafür waren Hygieneschutz-Bedingungen und nicht erfüllte Auflagen, weil das Lebensmittelamt die Berliner Fair-Teiler als Lebensmittelbetriebe eingestuft hatte. Dass sie keine sind, ist offensichtlich.
Die Community reagierte darauf mit einer Petition zum Erhalt der Fair-Teiler – 40.000 Menschen unterschrieben. Inzwischen sind die meisten der Schnittstellen zwischen Foodsaver und Verbraucher wieder in Betrieb. Wie es in Zukunft weitergeht ist allerdings noch nicht gewiss. Raphael Fellmer ist optimistisch: „Ich weiß noch keine Lösung für das Problem der Fair-Teiler. Aber ich bin mir sicher, dass es eine gibt und, dass sie gefunden wird.“
Raphael Fellmer zusammen mit der Ausbeute eines Rettungseinsatzes. Foto: Archivbild/Fellmer
Auch Mitarbeiter sind erleichtert, wenn sie weniger wegwerfen müssen
Gerard ist seit drei Jahren aktives Mitglied der foodsharing Community. Auf seinen ersten Missionen als Foodsaver hatte er noch ein ungutes Gefühl. „Es ist ungewohnt, dass man etwas geschenkt bekommt“, erklärt er. „Da habe ich mich zunächst wie ein Bittsteller gefühlt.“ Doch das legte sich schnell. „Als ich mitbekommen habe, dass es auch die Mitarbeiter*innen in den kooperierenden Betrieben erleichtert, wurde mir der Win-Win Effekt immer deutlicher.“
Heute ist Gerard Profi. Er wurde von der foodsharing Community gemeinsam mit zwei Kolleg*innen via Veto-Verfahren zum Berliner Botschafter ernannt. Damit kümmert er sich nicht nur um Rettungsaktionen sondern koordiniert das SOS-Team für Großeinsätze und kümmert sich um die Öffentlichkeitsarbeit der Initiative. Das SOS-Team kommt zum Einsatz, wenn viele Lebensmittel auf einmal gerettet werden müssen. In der Vergangenheit wurden schon palettenweise Fruchtsäfte und ganze LKW-Ladungen gekühlter Lebensmittel vor der Vernichtung bewahrt.
Kistenweise gerettete Lebensmittel.
Gerard verbindet das Ehrenamt mit seiner pädagogischen Arbeit. So schaffen es gerettete Lebensmittel bis in die Schulküche einer integrierten Sekundarschule in Berlin-Pankow und tragen dort zur Bildung bei. In seinem Projekt “Kitchen Impossible” verkocht er gemeinsam mit seiner Schülergruppe Gesammeltes – nicht nur leckeres Essen, sondern Aufklärung, wo sie am nützlichsten ist.
Mittlerweile wurden mittels foodsharing deutschlandweit auf 526.809 Einsätzen über 7.500.000 Kilogramm – fast 20 vollbesetzte Jumbo-Jets – Lebensmittel vor der Mülltonne gerettet. Global werden 1,3 Milliarden Tonnen produzierter Lebensmittel pro Jahr weggeworfen. Davon 20 Millionen Tonnen nur in Deutschland – 500.000 LKW voll Lebensmittel. Höchste Zeit, dass sich Menschen dafür einsetzen diese Zahlen zu verkleinern. Rund 25.000 ehrenamtliche Foodsaver und über 3.000 Kooperationsbetriebe waren daran beteiligt.
foodsharing soll internationalisiert werden
Gerard und seine Rettungskolleg*innen machen unterdessen weiter und fahren ihre Touren, sammeln Lebensmittel und verteilen sie. Insgesamt wurden mehrere Millionen Stunden ehrenamtlicher Zeit in das Projekt gesteckt, derzeit sucht der Verein finanzielle Unterstützung. Aufgrund des rasanten Wachstums der Bewegung steht eine Umstrukturierung bevor, die auch Geld kostet. Deswegen wurde ein Spendenaufruf gestartet:
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